Kulturelle Wirkungen der Reformation: Sektion I.2: Abstracts

 

Jan Martin Lies (Mainz, Germany)

Autoritätenkonflikt und Identitätssuche. Die Entstehung einer neuen Streitkultur im Zuge der Reformation

Indem Martin Luther der Berufung auf die scholastische Theologie und die kirchliche Tradition das Schriftprinzip des sola scriptura entgegenstellte, entstand ein Autoritätenkonflikt. In der Folge kam es zu konfessionellen Klärungsprozessen, die durch die neuen Kommunikationsmöglichkeiten, die der Buchdruck eröffnete, öffentlich ausgetragen wurden.

Da Luther von den Evangelischen im Reich eine besondere Autorität zuerkannt worden war, wurde mit seinem Tod die Frage virulent, wer zukünftig in Lehrstreitigkeiten unter den Evangelischen vermitteln oder entscheiden sollte. Dieses Problem bekam durch den Erlass des Augsburger Interims zusätzliche Bedeutung. Es entzündeten sich zahlreiche Kontroversen, die einen langwierigen ›lutherischen‹ Identitätsbildungsprozess darstellen.

 

Friedemann Stengel (Halle/Saale-Wittenberg, Germany)

›Sola scriptura‹ im Kontext. Behauptung und Bestreitung des reformatorischen Schriftprinzips

So selbstverständlich die Rede vom ›sola scriptura‹ sich als Kern- und Unterscheidungsmerkmal des Protestantismus eingebürgert hat, so sehr scheiden sich am Schriftprinzip die Geister. Manche sehen in der Bibel eine Inkarnation des Wortes Gottes, einige bemühen sich um die Umdeutung des Schriftprinzips als Wegbereiter einer fortschrittlichen Geistesgeschichte, anderen gilt es vor allem als abgrenzendes Wesensmerkmal des Protestantismus gegenüber anderen Christentümern. Bei vielen hat sich die Rede von der Krise des Schriftprinzips als Selbstverständlichkeit eingebürgert; manche fordern ganz seine Abschaffung. Der Beitrag geht von diesen disparaten Debatten zurück in das frühe 16. Jahrhundert, um den konkreten Positionen und historisch bedingten Grenzen auf die Spur zu kommen, zwischen denen das Argumentieren mit der Heiligen Schrift als alleinigem göttlichen Wort entwickelt worden ist. Der Blick in diese Entstehungszusammenhänge kann in den aktuellen kombattanten Diskussionen zur Aufklärung beitragen.

 

Saskia Gehrmann (Halle/Saale-Wittenberg, Germany)

»Pietistische Medizin« als Produkt der ›Marke Waisenhaus‹

Der Vortrag thematisiert das Spannungsverhältnis von Religion und Medizin am Beispiel der Franckeschen Stiftungen in Halle im 18. und 19. Jahrhundert. Im Zuge dessen stehen Entwicklungslinien hinsichtlich der Deutungskonzepte von Gesundheit und Krankheit und deren Umsetzung im medizinischen Alltag im Fokus. Dies geschieht vor dem Hintergrund der kritischen Überprüfung des Ideals der »pietistischen Medizin« im Kontext der sogenannten ›Imagepolitik‹ der Franckeschen Stiftungen, die bereits seit der Gründung der Stiftungen Ende des 17. Jahrhunderts betrieben wurde. Zentral dabei ist die Fragestellung, inwiefern das normativ formulierte Ideal einer »pietistischen Medizin« tatsächlich für die praktische Umsetzung im medizinischen Alltag gedacht war und welche werbende Funktion dieses erfüllte und erfüllen sollte.

 

Malte Dominik Krüger (Marburg, Germany)

Ist der Protestantismus eine denkende Religion?

Einerseits kann der (spät-) moderne Protestantismus als eine relativ vernunftaffine Gestalt von Religion erscheinen, die sich durch ihre Rechenschaftsfähigkeit im Denken ausgezeichnet sieht. Andererseits kann der (spät-) moderne Protestantismus genau diese Ausrichtung mit der Einsicht verbinden, dass er in einer präreflexiven Sphäre (des Religiösen) verankert ist, die sich nicht aufheben lässt. Dem soll thematisch nachgegangen werden – mit dem Fokus auf der Frage: Wie lässt sich der (spät-) moderne Protestantismus kategorial so begreifen, dass das unaufhebbar Reflexive und das unaufhebbar Präreflexive religiös ertragreich zusammenkommen?

 

Tomas Sodeika (Vilnius, Lithuania)

Die Geburt der Religionswissenschaft aus dem Geiste der Reformation. Martin Luther und Rudolf Otto

Als Wendepunkt in der Geschichte der Religionsforschung kann das Erwachen des Verständnisses für die von Nathan Söderblom hervorgehobene ›Heiligkeitsidee‹ betrachtet werden. Diese Idee wurde von Rudolf Otto weiterentwickelt. Es ist zu beachten, dass Ottos Beitrag zur Entstehung von geisteswissenschaftlicher Forschung der Religion durch Martin Luthers reformatorischen Ansatz inspiriert war. In meinem Vortrag möchte ich den Zusammenhang von Luthers De servo arbitrio und Ottos Konzept des ›Heiligen‹ im Kontext der Entstehung der Religionswissenschaft näher betrachten.

 

Marianne Schröter (Halle/Saale-Wittenberg, Germany)

Theologie als Wissenschaft. Theorien der Religion um 1920

Dass das Thema der Religion seit einiger Zeit als multidisziplinär zu gestaltende wissenschaftliche Aufgabe angegangen wird, ist bei einem Blick auf die gegenwärtige Forschungslandschaft leicht wahrzunehmen. Man kann indes kaum sagen, dass diese Öffnung auch bereits methodisch-systematisch durchbuchstabiert wäre.

Gegenüber diesem eher kritischen Befund versucht der Beitrag eine Analyse des Potentials der breit angelegten und streng argumentativ verfahrenden Kontroverse in der Zeit der klassischen Moderne. Will man prominente religionstheoretische Konzepte dieser Zeit skizzieren, sind die Namen Adolf von Harnack, Ernst Troeltsch, Rudolf Otto und Paul Tillich einschlägig. Die hier begegnenden wissenschaftstheoretischen Grundlegungen und methodischen Bestimmungen können auch für die heutige Auseinandersetzung noch manch Substantielles beitragen.

 

Stefan Lang (Tübingen, Germany)

Performative Vernunft

In diesem Vortrag wird die Skizze einer performativen Interpretation der Vernunft entworfen. Sie enthält eine performative Auslegung klassischer philosophischer Theorien der Vernunft, die von der Reformation maßgeblich beeinflusst sind, sowie daran anschließend eine originäre performative Erklärung eines Ausschnitts menschlicher Subjektivität. Außerdem wird die Bedeutung dieses Interpretationsansatzes für die Religion diskutiert und seine Anschlussfähigkeit an kulturwissenschaftliche und politikwissenschaftliche Theorien dargelegt. Schließlich soll anhand dieser Skizze ein Beitrag zur Beantwortung der Frage nach der Einheit der Vernunft angesichts der Vielfalt von Rationalitäten geleistet werden.

 

Sebastian Böhm (Leipzig, Germany)

Luthers Kant-Kritik und Hegels Übergang von der Vorstellung zum Begriff

Der Beitrag legt in drei Schritten den theologischen Hintergrund der hegelschen Konzeption des Übergangs von der Vorstellung zum Begriff dar. Hierzu wird zunächst der lutherische Hintergrund der hegelschen Kant-Kritik entfaltet. Im Anschluss hieran wird die sich in Kant bzw. der Aufklärung vollziehende Vertiefung der Sünde als notwendiges Entzweiungsmoment im Übergang von der Vorstellung zum Begriff dargestellt. Abschließend wird auf die Bedeutung dieses Moments der Negativität für die hegelsche Philosophie und die nachhegelsche Entwicklung der modernen Vernunft reflektiert.

 

Melanie Sterba (Halle/Saale-Wittenberg, Germany)

›Hate speech‹ – Martin Luther mit Judith Butler lesen

Als feministische Philosophin steht man häufig vor dem Problem, mit den diskriminierenden Äußerungen gemeinhin anerkannter und meist männlicher Wissenschaftler über Frauen konfrontiert zu sein und von diesen gegebenenfalls verletzt zu werden. Eine zentrale Frage feministischer Theorie ist daher, wie sich ihr Verhältnis zur traditionellen Theorie bestimmt. In ihrer Studie Haß spricht zeigt Judith Butler mit ihrer Untersuchung der Politik des Performativen einerseits, wie Sprache verletzt und andererseits, wie man dem verletzenden Verfahren der ›hate speech‹ entgegentreten kann. In meinem Vortrag möchte ich diesen Ansatz beispielhaft anhand von Martin Luther demonstrieren – seine Sprache soll uns eine Lehre sein.

 

Valentina Surace (Messina, Italy)

»Lutero qui genuit Heidegger«

Die reformatorische Theologie gilt als ein entscheidender Ursprung des modernen Subjekts. Jedoch lässt sich bereits auch dessen Dekonstruktion beim jungen Luther, vor allem in seinen Wittenberger Vorlesungen finden. Mit dem Ausdruck »Lutero qui genuit Heidegger« verweist Derrida auf die Herkunft der protolutherischen von der Heidegger’schen ›Destruktion‹. Auf dieselbe Weise wie Luther die scholastische Theologie (›theologia gloria‹) einer ›destructio‹ unterzieht und dabei zu einer ›theologia crucis‹ des inkarnierten Gottes kommt, dekonstruiert Heidegger die theoretische Lebensphilosophie und entwirft dabei ein konkret-historisches Verständnis. Entsprechend lässt sich auch Luthers Dekonstruktion des alten Menschen (›homo gloriens‹), der sich seiner Letztbedingtheit nicht bewusst ist (›homo crucis‹), mit Heideggers Auflösung des traditionellen Konzepts des Menschen als eines ›animal rationale‹, einer ›res cogitans‹ parallelisieren.

Kulturelle Wirkungen der Reformation

7. bis 11. August 2017      KulturelleWirkungenderReformation

Kontakt: kongress@leucorea.uni-halle.de

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